7 Thesen für ein ­klimaneutrales Deutschland

Die großen Industrieländer investieren in den kommenden Jahren Billionen von Euro in den Umbau ihrer Wirtschaft, Gesellschaft und Energieversorgung. Unter anderem geht es um die Re-Industrialisierung der USA, um Projekterechte für Wasserstoff in Kanada und Australien sowie um gigantische Solar- und Windparks in China. Viele der technologischen Grundlagen dieser Investitionen hat Deutschland nach dem Jahr 2000 gelegt – aber selbst nicht immer konsequent wirtschaftlich verfolgt. Noch haben wir die Chance, uns wieder nach vorne zu arbeiten, denn das Rennen um den Aufbau der Klimawirtschaft hat gerade erst begonnen. Deutschland als starke Industrienation hat deshalb nach wie vor alle Möglichkeiten, den Wandel zur Klimaneutralität zu gestalten und daraus eine positive Zukunftserzählung zu entwickeln. Worum es geht und welche Chancen sich uns bieten: Das fassen diese Thesen zusammen.

Die Grundlage für Klimaschutztechnologien haben deutsche Forschungsinstitute und Unternehmen in jahrzehntelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit geschaffen: Bei der Windenergie, der Leistungselektronik, der Industrialisierung hocheffizienter Solarzellen, der Robotik, digitalen Prozesssteuerung, bei Fahrzeugen und vielem mehr. Klima-, Energie- und Effizienztechnologien sind der Megatrend der kommenden Jahrzehnte, mit jährlich zweistelligen Wachstumsraten und dementsprechend großen unternehmerischen Betätigungsfeldern. Eine ambitionierte Industriepolitik kann diese Felder heute bestellen und damit zum Garanten für den wirtschaftlichen Erfolg bis zur Mitte des Jahrhunderts werden. Denn das Land, das als erstes Klima- und Ressourcenneutralität erreicht – und anderen Ländern dabei hilft – hat seine wirtschaftliche Basis auf den Weltmärkten für Jahrzehnte gesichert.

Unser wirtschaftlicher Erfolg basiert auf fossiler Energie – das gilt ebenso für unser Zusammenleben, für Kultur und Bildung, Unterhaltung und Sport. Doch Öl, Kohle und Gas gefährden nicht nur das Klima und unsere Lebensbedingungen. Sie werden auch immer teurer und die Versorgung damit wird zunehmend unsicher. Neue Energie – Strom und Wärme aus Wind und Sonne, Pflanzen und Abfällen sowie aus Wasserkraft – ist hingegen überreichlich innerhalb der deutschen Grenzen verfügbar und das zu Kosten, die deutlich unter denen der alten Energien liegen. Für eine Gesellschaft, deren Erfolg und Wohlergehen wesentlich von den Energiepreisen abhängt, ist die Nutzung günstiger erneuerbarer Energien daher unverzichtbar. Zusätzlich mehren sie den Wohlstand unseres Landes, wenn die Investitionen dafür vor allem im Inland erfolgen – und damit weniger Geld in andere Länder fließt, um Energielieferungen von dort zu bezahlen.

Die Ausgaben für neue Energien, für Stromleitungen, Wasserstoffanlagen, für sparsame Häuser und Industrieanlagen sind viel mehr als Investitionen in unser künftiges Energiesystem: Sie sind zugleich ein großes Modernisierungsprogramm, vergleichbar nur mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und den Investitionen in die deutsche Einheit. Wir schaffen damit eine zukunftsfähige Industrie, die in einer dem Klimaschutz verpflichteten Welt konkurrenzfähig bleibt, ein Eisenbahnsystem, das wieder ein Rückgrat unseres Landes wird und Häuser, in denen sich gut leben und arbeiten lässt. Zur Modernisierungsdividende zählt auch, dass wir riesige Flächen, die bislang für den Abbau von Braunkohle genutzt wurden, wieder einer fruchtbringenden Verwendung zuführen können und dass Deutschland als Drehscheibe des europäischen Energiehandels noch mehr an Bedeutung gewinnt.

Bei der großen Transformation gibt es mehr zu gewinnen als zu verlieren. Zuvorderst steht eine intakte Erde, die nicht nur uns ernährt, sondern auch unsere Kinder und Enkel. Klimaschutz gewährleistet ihnen die gleiche Freiheit, die wir heute genießen. Darauf hat im April 2021 auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Klimaschutzgesetz hingewiesen und den Gesetzgeber deshalb zu besserem Klimaschutz verpflichtet. Die Investitionen in Klimaneutralität sind aber noch mehr: Sie sichern die Arbeits- und Ausbildungsplätze von morgen ebenso wie politische Handlungsfreiheit. Dass erst kommende Generationen die Früchte der heutigen Modernisierung werden ernten können, liegt in der Natur großer Projekte. Man denke an die Einführung des Euros, die Öffnung des Arbeitsmarktes für Bürger anderer Staaten, oder den Bau des ICE-Hochgeschwindigkeitsnetzes. Keines dieser Vorhaben war einfach umzusetzen oder unumstritten. Doch heute können wir sagen, dass sie Erfolgsgeschichten geschrieben haben. 

Der Aufbau der Klimawirtschaft bietet die einmalige Gelegenheit, die heute abgehängten Regionen des Landes aufzuwerten. Denn sie bieten etwas, das für die Nutzung von Wind- und Solarenergie unverzichtbar ist: Große Flächen bei eher dünner Besiedelung und zugleich viel Wind und Sonnenschein. Diese energiereichen Gebiete sind prädestiniert für neue Industrieansiedlungen, für Qualifizierungsprogramme für Beschäftigte, für neue Arbeitsplätze bei Energiedienstleistern und sogar für Energietourismus, der immer beliebter wird. Beispielhaft lässt sich das schon heute in Kommunen erleben, die diese Chancen frühzeitig erkannt haben und jetzt wirtschaftlich und demografisch besser dastehen. Der Auf- und Umbau der Wirtschaft bietet zugleich die Chance, die Lebens- und Einkommensverhältnisse in Nord und Süd, in Ost und West einander anzugleichen und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ein solches Gelegenheitsfenster ist selten – nutzen wir es!  

Anders als die alte Energieinfrastruktur basieren Klimaschutztechnologien auf dezentralen Erzeugungstechnologien: Millionen kleiner Anlagen liefern Strom und Wärme – anstatt weniger systemrelevanter Großkraftwerke wie bislang. Der Schwarm aus Wind- und Solaranlagen, Biomasse- und Wasserstoffkraftwerken lässt sich kaum in seiner Gesamtheit treffen. Selbst wenn einzelne Anlagen in größerer Zahl ausfallen, wirkt sich das weniger auf das gesamte Energiesystem aus als der Ausfall einiger Großkraftwerke. Das gilt gleichfalls für die Auswirkungen von Naturkatastrophen, Störungen von Lieferketten und politischen Unruhen in den Förderländern von Gas, Öl und Kohle.  Geopolitische Verwerfungen treffen ein heimisches, klimafreundliches Energiesystem daher weit weniger als das alte Energiesystem. In Summe vergrößern Klimaschutztechnologie somit die Resilienz von Wirtschaft und Gesellschaft erheblich und schenken uns außenpolitische Handlungsfreiheit.